Betroffen sah ich Lindsey voller Anteilnahme in die Augen. "Das ist furchtbar! Ich hätte gedacht, dass es leichter wäre, sich an solche Dinge nicht mehr erinnern zu müssen.
Dass der Gedächtnisverlust gewissermaßen auch sein Gutes hätte, wie Zoe vorhin meinte. Von der anderen Seite habe ich es gar nicht gesehen..."
Mir kam ein Gedanke: "Ich verstehe leider nichts von Psychologie. Ich weiß auch gar nicht, ob wir hier in Tree Hill einen Psychologen haben, vielleicht meldet sich ja einer.
Mein Gedankengang ist gerade, ob es sein kann, dass du die Erinnerung an den Tod deines Vaters verliern wolltest, dass das die Ursache für deinen Gedächtnisverlust war.
Nicht der Unfall, der war vielleicht nur ein willkommener Auslöser!"

"Ja man sollte meinen,dass es gut wäre solche Dinge zu vergessen.Doch ich habe nicht nur seinen Tod vergessen,sondern auch meine letzen Tage mit ihn und unser letzes Gespräch.Ich würde alles tun um diese Erinnerungen wieder zu bekommen,auch wenn sie noch so schmerzhaft sind."sagte ich jetzt leicht verzweifelt.Das war einfach nicht fair.
"Ich kenne mich damit auch nicht so gut aus,aber vielleicht sollte ich wirklich mit jemand reden,der sich damit auskennt."stimmte ich ihm zu.Vielleicht gab es ja noch Rettung.
"Ich finde die Menschen sind undankbar.Jeden Tag beschweren wir uns über jede Kleinigkeit und beklagen uns so sehr,weil unser Leben doch so furchtbar schrecklich ist,anstatt dankbar am Leben zu sein.Wir nehmen alles viel zu selbstverständlich.Ich bin keine Ausnahme.Man erwacht jeden Morgen mit der Annahme,dass man genauso gesund mit ein paar Problemen mehr oder weniger am nächsten Morgen wieder aufwachen wird.Natürlich hört man in den Nachrichten von den Unfällen und Grausamkeiten,die Menschen wiederfahren und man hat tiefes Mitleid für die Opfer,doch keiner denkt daran,dass es einem selbst so gehen kann.Doch es gibt so viele Tragödien auf der Welt,dass es wahrscheinlicher ist,dass einem eine wiederfährt,als nicht.Und trotzdem leben wir unsere Leben in der Annahme,dass man selbst die Ausnahme ist."sprach ich meine Gedanken aus.Es war vielleicht nicht an der passenden Stelle und bei den Meisten geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus,doch es fühlte sich gut aus diese Worte mal ausgesprochen zu haben.

Obwohl es unprofessionell war, während einer Radiosendung zu schweigen, war ich kurz still. Lindseys Worte gingen mir nahe. Ich wünschte, Lucas wäre da. In solchen Momente war oft er es, der die richtigen Worte fand.
Denn ich verstand, was Lindsey meinte: "Oh ja! Ich erinnere mich an den Tag, als ich meinen Freund Jimmy Edwards verlor. Am Morgen habe ich ihn von weitem gesehen… und ich bin nicht gleich zu ihm gegangen, weil ich dachte, ich könne ihm abends die CD zurückgeben, die ich mir ausgeliehen hatte. Dann, am Abend, war er tot. Als ich ihn sah, deutete nichts darauf hin, kein besonderer Lichtstrahl, der auf ihn fiel, kein Vogel, der über ihm kreiste, nichts. Und dann… bumm!
Ich habe mir oft gewünscht, dass es nicht passiert wäre. Viele Hörer können sich bestimmt noch daran erinnern. Und das wünsche ich mir immer noch. Aber, Lindsey, etwas hat sich geändert. Ich wünsche mir nicht mehr, dass ich alles einfach vergessen könnte, was mit Jimmy zusammenhing. Ich bin froh, dass ich die Erinnerung an Jimmy Edwards habe. Es wäre so leicht, alles zu vergessen… und es wäre so schade!"
Ich nahm einen großen Schluck Kaffee. "Ein Hörer schreibt gerade, du solltest auf keinen Fall aus Tree Hill weggehen, Lindsey, sondern hier bleiben und dich so gut wie möglich deiner Vergangenheit stellen. Sie schreibt, hier in der Kleinstadt gebe es viel mehr Menschen, die dich stützen, als wenn du wieder nach New York gingest. Tree Hill bedankt sich bei der Einsenderin! Ich sehe das auch so, ich bin auch erst vor kurzem aus New York wiedergekommen."
Die Moderation machte mir Spaß, aber sie strengte auch an. Julia hatte einen frischen Kaffee gebracht, von dem ich gleich wieder trank. "Hast du schon Pläne, Lindsey, wirst du hier in Tree Hill bleiben?"

Ich hörte Mouth zu und sah ihn voller Mitgefühl an.Gleichzeitig war ich aber auch neidisch auf ihn."Ich wünschte ja auch ich hätte die Erinnerungen,doch ich habe sie nicht.Meine Mutter hat mich im Krankenhaus besucht und gemeint,dass ich froh sein kann diesen Teil vergessen zu haben.Sie hat mir erzählt,dass ich diesen einen Ton,den die Geräte gemacht haben,bevor ich sie abgestellt habe nicht aus dem Kopf bekommen habe.Und seit dem versuchte ich verzweifelt diesen Ton wieder in meinen Kopf zu bekommen.Mit aller Kraft strenge ich mich an,auch wenn ich weiß,dass es sinnlos ist.Das ist echt verrückt,dass ich jetzt das möchte,was ich vor meinem Unfall los werden wollte."sagte ich nachdenklich.Beinahe vergaß ich,dass ich mich gerade nicht nur mit Mouth unterhielt,sondern ganz Tree Hill zuhören konnte.
"Ehrlich gesagt,hatte ich vor zu gehen.Ich war der Meinung,dass es zu hart ist von Menschen umgeben zu sein,die so viel über mich wissen,das nicht einmal ich weiß.Doch dann ist mir klar geworden,dass meine einzige Chance weiter zu machen und mich gewissermaßen wieder selbst zu finden ist hier bei genau diesen Menschen zu bleiben.Also werde ich hier bleiben."fügte ich hinzu.Es fühlte sich richtig an hier zu bleiben.

"Viele Menschen in Tree Hill haben Schicksale… das ist das Markenzeichen unserer Stadt, liebe Hörerinnen und Hörer! Ein Schicksal zu haben...
Aber was uns Lindsey Strauss hier offenbart hat, ist wirklich eine beklemmende Geschichte."
Ich wandte mich wieder an Lindsey: „Du bist Verlegerin gewesen, in New York. Du hast den Verlag deines Vaters geerbt. Ich weiß nicht, ob du das weißt.
Ich muss gerade an Brooke Davis denken… viele Grüße an Brooke, irgendwo da draußen… sie war ebenfalls in New York und hat dort ihre Modelinie entwickelt.
Aber dann ist sie doch wieder nach Tree Hill zurückgekommen. Wir alle kenne den "Clothes over Bros"-Flagshipstore draußen in der Stadt."
Ich grinste frech, wohl wissend, dass man ein gutes Grinsen durchaus durch das Radio hören konnte: "Ihr könnt mir glauben, auch ich habe nichts anderes drunter als 'CoB'!"
Dann wurde ich wieder ernst und fragte Lindsey: "Nun, Brooke hat ein Modegeschäft eröffnet. Genauer - sie hat ihr Geschäft aus New York hierher verlegt. Planst du etwas ähnliches, Lindsey Strauss?"

"Ja ich habe davon gehört.Auch von mir liebe Grüße an Brooke.Ich habe darüber nachgedacht und bin noch nicht wirklich zu einem Entschluss gekommen.Ich möchte auf jeden Fall hier blieben,doch ich bin unentschlossen,ob ich etwas anderes ausprobieren möchste.Auf der anderen Seite möchte ich aber auch das Erbe meines Vaters weiter führen."schilderte ich meine Lage."Ich wollte auch schon immer einen kleinen Buchladen.Nichts großes,sondern eher einen kleinen gemütlichen.Vielleicht gehe ich auch in die Richtung."überlegte ich laut.

Lindseys Antwort freute mich: "Ein Buchladen! Ja, so etwas fehlt hier in der Stadt wirklich. Gleich nebenan steht ein Laden leer. Wir brauchen mehr Buchläden, weniger Autohäuser, sagt Lucas immer.
Sicherlich hat so ein Buchladen außerdem eine beruhigende Wirkung. Bücher lesen ist Balsam für die Seele... und deine Seele, Lindsey, kommt mir recht geschunden vor."

Ich sah kurz zu Julia und wandte mich dann wieder an Lindsey: "Bestimmt wirst du dich mit Julia einigen, ob Lucas dann seine Lesungen bei dir im Buchladen oder hier im Café veranstaltet. Marvin McFadden wird auf jeden Fall dabei sein und live berichten!"

Den letzten Satz hatte ich zur Überbrückung gesprochen, um kurz in meinen Notizen blättern und in den Computer schauen zu können. Sonst spielte ich manchmal Musik ein, um dafür Zeit zu haben, aber heute schien es mir unpassend.
"Wir haben über deinen Vater gesprochen, Lindsey Strauss. Er ist tot, leider... er könnte dir sicherlich Halt geben nach deinem Gedächtnisverlust. Hast du denn noch eine Mutter, kann sie dich wenigstens stützen?"

"Ja es ist bisher nur eine Idee,doch es scheint mir einfach falsch wieden in den gewohnten Alltag zurück zu kehren.Ich will irgendwas in meinem Leben ändern und das scheint mir passend.Und dennoch könnte ich was mit Büchern zu tun haben."sagte ich und die Idee nahm in meinem Kopf immer mehr Gestalt an.Ich könnte mir den Laden auf jeden Fall mal ansehen.Denn sobald ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte konnte es gar nicht schnell genug gehen.

"Ja bestimmt.Erst einmal brauche ich einne Buchladen."lachte ich,dass Mouth bereits so weit dachte.

"Oh ja er hatte immer dieses Talent mich ohne Worte zu beruhigen.Schon allein eine Umarmung lies mich sicher und geborgen fühlen.Denn er hatte so viel Liebe in seinem Herzen,die er bereitwillig austeilte.Und ich hatte das Glück von ihm geliebt zu werden.Ja ich habe noch eine Mutter,doch sie hat den Tod meines Vaters nicht verkraftet.Mittlerweile ist sie nur noch ein Abbild ihrer alten Stärke und sie braucht mehr Unterstützung,als ich."erzählte ich wehmütig.

"Mir schreibt gerade ein Psychologe eine E-Mail..." - ich las - "...er findet, du solltest dir auf jeden Fall Hilfe holen. Die Sache mit der Buchhandlung würde dich nur oberflächlich entlasten, aber das Trauma müsste unbedingt angegangen werden. Er vermutet auch, dass dein Gedächtnisverlust weniger durch den Unfall als durch deine Sterbehilfe bei deinem Vater ausgelöst worden sei." Ich sah Lindsey an und sprach weiter:
"Also ich glaube, diese Leute haben keine Ahnung. Meiner Meinung nach hilft ein hübscher Laden in einer schönen Stadt mehr als alles andere... er stiftet Sinn, er beruhigt..." Ich dachte an meine Zeit in New York, an meine deprimierende dortige Moderatorentätigkeit, und wie gut es mir nach der kurzen Zeit in Tree Hill schon wieder ging.
"Was du über deinen Vater sagst, ist beeindruckend. Er muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein. Hier in Tree Hill haben wir nicht so viel Glück mit den Vätern... aber es bessert sich, wenn ich zum Beispiel an Jamie Scott und seinen wundervollen Vater denke. Herzliche Grüße an die ganze Familie Nathan, Haley und Jamie Scott da draußen! Es sind gute Freunde von Lucas, du wirst sie bestimmt bald kennenlernen, Lindsey. Und du musst sie noch kennenlernen, denn die Scotts kanntest du vor deinem Unfall auch nicht wirklich. -- Deine Mutter, ist sie denn noch in New York, oder wohnt sie hier in der Stadt?"

Mittlerweile hatte ich ganz vergessen,dass ich im Radio war und meine Angst und Nervosität waren längst verflogen.Ich hätte den ganzen Tag reden können und all die Sorgen und Ängst,die auf mir lasten los werden.
"Dann muss ich dem Experten wohl glauben und einen Psychologen aufsuchen."meinte ich unwohl.Wobei in Amerika doch jeder Zweite einen Seelenklempner hatte,also war das wohl nicht so ungewöhnlich.Und wenn er Recht hatte,dass es weniger mit meinem Unfall zu tun hatte,dann bestand vielleicht die Chance meine Erinnerung zurück zu bekommen.
"Und wie du damit Recht hast Mouth."stimmte ich ihm lächelnd zu.Daran würde ich auf jeden Fall festhalten.
"Und wie er das war.Ich habe schon von den Scotts gehört.Hört sich wirklich nach einer beeindruckenden Familie an.So groß ist Tree Hill ja nun auch wieder nicht,also wird sich das bestimmt ergeben.
Sie lebt immer noch in NY.Ich habe angeboten wieder ihretwegen zurück zu kommen,doch das wollte sie nicht."

"Vielleicht mag deine Mutter nach Tree Hill kommen, stattdessen.", schlug ich vor. "Bestimmt haben wir Hörer, die ein Zimmer zur Untermiete anzubieten haben und sich auch ein wenig um sie kümmern könnten.
Ja, die Seelenklempner!" Ich ich sah Lindsey bewundernd an: "Ich finde es erstaunlich, wie offen du über dies alles sprichst, noch dazu vor einem großen Publikum. Also ich meine nicht nur Zoe und Julia, sondern die ganze Stadt.
Deine Jugend muss ziemlich positiv verlaufen sein, so dass da ein gutes psychisches Fundament ist. Hast du mal darüber nachgedacht, wo du jetzt stündest, wenn die Sache mit deinem Vater und auch der Unfall nicht gewesen wäre?"

"Ich bin mir sicher,dass es ihr hier sehr gut gefallen würde,doch ich will sie nicht aus ihrer vertrauten Umgebung reißen.Hier wären alle außer ich für sie fremd und sie könnte ihre Freunde nicht mehr sehen."erklärte ich.Das würde ihren Zustand sicherlich nur noch verschlimmern und das wollte ich vermeiden.
"Ehrlich gesagt versuche ich nicht daran zu denken,dass mich so viele Leute hören,sonst wäre ich bei Weitem nicht so offen."meinte ich lächelnd.
"Ja das war sie.Ich denke so viel Unterschied wäre vielleicht gar nicht zu meinem jetzigen Leben.Ich wahrscheinlich immer noch in NY und würde erfolgreich als Lektorin arbeiten an der Seite von meinem Vater."überlegte ich.Denn Lektorin war schon immer mein Traumjob gewesen.

"Das mit deiner Mutter kann ich verstehen. Du hast wahrscheinlich recht." Jetzt hatte ich wieder vergessen, dass ich ein Radiointerview führte. "Dein Vater freut sich sicher, wenn du den 'Büchern' treu bleibst.
Ich weiß nicht, ob Lucas noch an einem Buch arbeitet, oder jemand anderes in der Stadt. Ich hoffe es... dass wir hier am Ende einen Truman Capote finden und Tree Hill nicht nur als Heimat der Ravens, sondern auch als Stadt der Literatur bekannt wird.
Mag sein, dass dir als Buchhändlerin gelingt, was du auch als Lektorin gemacht hättest: Einen Menschen zum Schreiben zu animieren.
Hmm... hast du mal daran gedacht, selber zu schreiben, Lindsey?"

"Oh ja.Und ich tue es nicht nur seinetwegen,sondern auch weil ich selbst Bücher über alles liebe.Sogar mehr als Schokolade."fügte ich lachend hinzu.Und das sollte was heißen.
"So weit ich weiß ist Lucas der einzige Schreiber hier in Tree Hill,aber das soll niemand abschrecken.Ich lese alles,was mir gegeben wird.Also wenn jemand von euch da Draußen denkt er hat etwas Talent und an etwas eigenem schreibt,würde ich mich freuen es mir mal anzuschauen."meinte ich.Viele Leute waren besser,als sie es dachten.Und es gab viele verborgene Talente.
"Tatsächlich habe ich es sogar mal versucht und es war zwar keine Katastrophe,doch auch nicht gut genug um es auf den Markt zu bringen.Ich bin sehr kritisch,was meine Arbeit angeht."erklärte ich.

"Diesem Aufruf an alle Menschen in Tree Hill und in der Nachbarschaft kann ich mich nur anschließen!", lachte ich in Mikrofon.
"Nur zu, versucht es einfach!", fügte ich hinzu, bevor ich mich wieder an Lindsey wandte: "Was für eine Art von Buch ist es denn gewesen? Ein Kriminalroman?"